Wie ich 307 Menschen nach ihrer Seenotrettung auf Lampedusa begrüßte und ein bitterer Nachgeschmack blieb.
Der Tag begann mit der Landung eines Bootes aus Libyen direkt neben meinem Frühstückstisch. 20 Menschen betraten Europa und konnten ihr Glück kaum fassen. Das Boot hatte es aus eigener Kraft geschafft. Einer der Angekommenen nahm eine Handvoll Sand und küsste sie: „Shukran“ (arabisch für Danke).
Es ist 3 Uhr morgens und ich bin endlich zu Hause. Hinter mir liegt ein langer, anstrengender Tag am Pier mit fünf eingetroffenen Rettungsbooten. Ich habe etwas gegessen, liege im Bett und kann nicht schlafen. Die Bilder des Tages gehen mir nicht aus dem Kopf.
Ich denke an den etwa 12-jährigen Jungen aus Eritrea, der ganz allein ankam und dessen Sprache niemand auf dem Boot sprach. Was muss er durchgemacht haben?
Ich denke an die Frau aus Palästina, die es gar nicht fassen konnte, dass sie angekommen ist und immer wieder von den hohen Wellen erzählte und wie viel Angst sie hatte.
Ich denke an den kleinen Jungen, der sich so gefreut hat, dass wir ihm eine kleine, hässliche, rosa Plüschmaus geschenkt haben.
Ich denke auch daran, wie ich jemandem aus Bangladesch versicherte, dass er sich im Moment keine Sorgen machen müsse, von der Polizei nach Albanien abgeschoben zu werden. „Niemand wird im Moment nach Albanien deportiert“. Ich habe ihn aber auch gewarnt, hier niemandem zu trauen. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat. Er hat sich total gefreut, dass hier alle so nett sind und ich wusste nicht, wie ich ihm sagen sollte, dass die Hälfte der Leute, die so „nett“ zu ihm waren, von Frontex waren und eigentlich nur unbedingt wissen wollten, wer dieses Boot gefahren hat, um diese Person zu kriminalisieren.
Ich denke an all die Menschen, die heute hier gelandet sind, die gesagt haben „Italy - very good“ und ich konnte nur denken, dass dieses Land und die EU nicht „very good“ sind. Es gibt hier gute Menschen, die versuchen zu helfen, aber die Politik dieses Landes und der Europäischen Union ist nicht gut.
Angesichts dieser Sympathiebekundungen möchte ich am liebsten schreien: „Die europäische Abschottungspolitik ist schuld daran, dass ihr bei der Einreise dieser enormen Gefahr ausgesetzt seid, dass ihr nicht einfach ein sicheres Flugzeug oder eine schnelle Fähre besteigen könnt, und das tut mir sehr leid, aber ich kann daran nichts ändern. Ich kann euch nur Tee und eine Decke anbieten“, aber das tue ich nicht.
Manchmal schäme ich mich fast, Europäerin zu sein. Ich weiß, niemand kann etwas für den Ort der Geburt, aber der Anblick der ankommenden Menschen macht mir klar, wie viele Menschen es wahrscheinlich auch heute nicht in den sicheren Hafen geschafft haben. Das Alarmphone hat den Kontakt zu zwei Schiffen auf See verloren, ihr Schicksal ist derzeit unbekannt.
Ich denke daran, wie viele der Menschen, mit denen ich heute gesprochen habe, auf diesen vermissten Schiffen gewesen sein könnten. Und nie wieder würde ihnen jemand Tee anbieten können - und sich dabei so hilflos fühlen.
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