EN / DE

Andreas Wunder vor 500 Jahren: Was, wenn er heute fliehen müsste?

26.11.2024

Andreas Wunder vor 500 Jahren: Was, wenn er heute fliehen müsste?
Gemälde von Andrea in der Chiesa di San Gerlando, Lampedusa

Einer Legende nach flüchtete Andrea, ein Sklave, auf einem Stück Holz über das Mittelmeer – ein Akt des Überlebens, der als Wunder gefeiert wurde. Heute wagen Tausende von Flüchtlingen die gleiche gefährliche Reise, doch ihre Ankunft endet oft in Ablehnung und Verzweiflung.

Andrea Alfossi wurde im 16. Jahrhundert von Korsaren entführt und nach Nordafrika verschleppt, wo er als Sklave auf einem Schiff arbeiten musste. Nach Jahren der Qualen bot sich ihm eines Tages während eines Landgangs auf Lampedusa die Gelegenheit zur Flucht. Er versteckte sich im Busch und entdeckte in einer Höhle ein Bild der Madonna. Ohne Boot und ohne Ausrüstung, aber mit einem tiefen Vertrauen in seine Überlebensfähigkeit, fand er ein Stück Holz, das ihm als Floß dienen sollte. An diesem Holz befestigte er das Bild der Madonna als Segel. Es war sein einziger Halt, sein Symbol der Hoffnung.

Er stieg auf das improvisierte Floß und ließ sich vom Wind treiben. Die Legende besagt, dass die Madonna ihn über die stürmischen Wellen des Mittelmeers leitete und ihn sicher die 2400 km an die Küste Liguriens brachte. Andrea überlebte, und seine Flucht wurde als Wunder verehrt, Bilder in der Stadtkirche sowie im Santuario della Madonna di Porto Salvo auf der Insel Lampedusa zeugen davon.

Santuario di Nostra Signora di Lampedusa

Diese Geschichte von Andrea hat auch heute noch eine symbolische Bedeutung. Mehr als 500 Jahre später fliehen auch heute wieder Tausende von Menschen aus Nordafrika, dem Nahen Osten und anderen Teilen der Welt über das Mittelmeer, auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben. 2023 erreichten mehr als 120.000 Menschen Italien, viele davon auf der Insel Lampedusa. Sie haben oft nichts als die Hoffnung auf ein besseres Leben und ein Stück Holz – metaphorisch gesprochen, als Zeichen ihres Überlebenswillens – das sie von der Küste Afrikas in die weiten, gefährlichen Gewässer des Mittelmeers führt.

Für die heutigen Flüchtlinge ist das Mittelmeer nicht nur eine geographische Barriere, sondern eine der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. Tausende sind in den letzten Jahren auf dieser Reise ertrunken oder verschwunden. Viele von denen, die es schaffen, sehen sich in Europa mit einem System konfrontiert, das sie oft nicht als Menschen, sondern als Problem behandelt. Während Andrea als Held gefeiert wurde, der seine Freiheit durch Glauben und Mut erlangte, werden die Flüchtlinge von heute häufig als Bedrohung wahrgenommen, ihre Geschichten nicht als die von Überlebenskämpfern, sondern als von "illegalen" Einwanderern.

KI generierte modernisierte Version einer Legende

Die Parallelen zwischen Andreas Flucht und den Fluchten von heute sind schwer zu übersehen. Beide Gruppen waren, sind von derselben Motivation angetrieben: dem Wunsch nach Freiheit, Sicherheit und einem Leben ohne Verfolgung. Doch die Bedingungen und die Reaktionen der Gesellschaft auf diese Fluchten könnten nicht unterschiedlicher sein. Während Andrea in seiner Zeit ein Wunder erleben durfte, das ihn rettete, werden die heutigen Flüchtlinge von der politischen Realität Europas abgewiesen, von einer Gesellschaft, die oft nicht bereit ist, ihre Geschichten zu hören oder ihre Not zu erkennen.

Die Geschichte von Andrea zeigt, dass die Hoffnung, die den Überlebenswillen antreibt, zeitlos ist. Es ist ein Akt des Überlebens, der weder durch Zeit noch durch geografische Grenzen gebunden ist. Ich frage mich, warum die eine Flucht als heldenhaft und die andere als Bedrohung ansehen wird. Vielleicht liegt die Antwort darin, wie wir als Gesellschaft bereit sind, uns unseren eigenen Ängsten und Vorurteilen zu stellen und den Flüchtlingen von heute den gleichen Respekt und die gleiche Menschlichkeit entgegenzubringen, die Andrea zu seiner Zeit erfahren durfte.