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Das Melilla Projekt

Entstehungsjahr:2014 - 2015
Veranstaltungsorte:
Melilla, Spanien
Werke:
Ausstellungen:
Kataloge:

Seit vielen Jahren beschäftigt sich Tanja Boukal mit politisch brisanten Orten, verbunden mit dem Schicksal der Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben viele Entbehrungen auf sich nehmen und ihre Entscheidung manchmal mit ihrem Leben bezahlen.

Der sozio-politische Hintergrund

Melilla ist eine spanische Exklave an der nordafrikanischen Küste. Die Stadt, die auf 13,5 Quadratkilometern etwa 85.000 Einwohner_innen zählt, wird von einem sechs bis sieben Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben, der sie von ihrem marokkanischen Umland trennt. Errichtet wurde dieser von Militär und Polizei bewachte und mit High-Tech-Geräten ausgestattete Wall, um Flüchtlinge davon abzuhalten, auf europäisches Territorium vorzudringen. Die europäische Außengrenze ist zum Schutz vor illegaler Einwanderung zusätzlich mit Wachtürmen, Bewegungsmeldern, Radar, Nachtsichtkameras und Tränengasbomben gesichert. Zusätzlich patrouilliert die Guardia Civil. Melilla wird somit zu einer kleinen Version der Festung Europa.

Migrant_innen aus Subsahara-Afrika und Syrien stranden an dieser Grenze Europas. Sie campieren in den Waldgebieten des Monte Gurugú oder mieten sich in einem der billigen Hotels in Nador ein und warten auf den „perfekten Moment“. Den 85.000 Einwohner_innen der Stadt stehen etwa 30.000 Flüchtlinge gegenüber, die die Möglichkeit, bei ihren Fluchtversuchen zu sterben, ihren bisherigen Lebensumständen vorziehen. Im Mai 2014 kam es zum größten Fluchtversuch seit zehn Jahren: Mehr als tausend Migrant_innen versuchten gleichzeitig den Zaun zu überwinden, nachdem bekannt wurde, dass er nochmals verstärkt werden würde. Das Auffanglager CETI in Melilla, gebaut für 480 Personen, wird zurzeit von 2.600 Flüchtlingen bewohnt.

Die Herangehensweise

Wie bei Tanja Boukals Recherchen zu vorangegangenen Projekten beschäftigen sie vor allem Fragen wie: Was bedeutete diese nüchterne Ausgangslage für die Realität? Was passiert mit diesen Flüchtlingen, für die das ersehnte Ziel Europa direkt vor Augen, dennoch unerreichbar fern ist? Was macht jahrelanges Warten unter menschenunwürdigen Umständen aus den Migrant_innen? Was passiert, nachdem sie es geschafft haben, den Zaun zu überwinden? Wie gehen sie damit um, nun wieder – nur auf der anderen Seite des Zaunes – zu warten? Wie ist es in einer Stadt zu leben, die im permanenten Ausnahmezustand ist? Wie gehen die Bewohner_innen dieser Stadt mit den Bewohner_innen des überfüllten Lagers um?

Im Zuge zweier Recherchereisen 2014 führte die Künstlerin zahlreiche Gespräche mit Flüchtlingen auf beiden Seiten der Grenze sowie mit Stadtbewohner_innen und Flüchtlingsbetreuer_innen, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Sie war mit einer Hilfsorganisation auf dem Monte Gurugú unterwegs, hielt Workshops im Flüchtlingslager in Melilla ab und dokumentierte all dies in ihrem Blog.

Die gewonnenen Eindrücke und Informationen bilden die Grundlage für eine Reihe von Arbeiten, an denen Tanja Boukal zum Teil bereits vor Ort zu arbeiten begonnen hat.


Die künstlerische Umsetzung

Ode an die Freude

Friedrich Schillers Libretto zum letzten Satz von Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie, die gemeinsam die Hymne der europäischen Union „An die Freude“ bilden, sagt viel über die Sicht Europas auf sich selbst und sein Verhältnis zu unbequemen Eindringlingen aus. Mit hohem Pathos beschreibt sie das klassische Ideal einer Gesellschaft Gleichberechtigter, die durch das Band der Freude und der Freundschaft verbunden sind.
Eine weiße Spitzendecke aus hochwertigstem Kaschmir – von Tanja Boukal von Hand gestrickt – trägt den Text der Europahymne umrahmt von gestricktem Stacheldraht. Dieses Werk ging mit ihr in Melilla auf Wanderschaft . Auf beiden Seiten der europäischen Außengrenze fotografierte sie Flüchtlinge eingehüllt in diese Luxusdecke, eingehüllt in die hehren Ideale Europas.

Schutzwall

Fotos unterschiedlicher Segmente des Grenzzauns – von außen abschreckend, von innen schutzgewährend – wurden zu dreidimensional wirkenden Paneelen gewebt. Bestehend aus weichem Frottiergewebe – kuschelig wie ein frisch gewaschenes Handtuch - hängen diese Stoffbahnen von der Decke zwischen den anderen Teilen der Arbeiten und zwingen die Besucher_innen dazu, immer wieder dagegen zu stoßen. Die optische Erfahrung wird somit durch eine haptische erweitert, die zweischneidige Funktion des Zauns als Schutzwall und (tödliche) Abgrenzung im wahrsten Sinne spürbar. Frottiergewebe,  wurde nicht zufällig gewählt. Es weckt die Assoziation zu Phrasen wie „die Hände in Unschuld waschen“.

Reisen

Die Arbeiten basieren auf Schwarzweißfotografien, die die örtliche Polizei den Medien zur Verfügung stellt. Sie zeigen Möglichkeiten, wie Flüchtlinge in der Vergangenheit versucht haben, Melilla zu erreichen. Tanja Boukal organisierte Workshops im Flüchtlingslager CETI, wo Flüchtlinge das Foto ihrer eigenen Reise wählten und diese mit Zeichnung und Botschaften gestalteten. Der Kontrast zwischen nüchterner Dokumentation der Fluchtrouten und der sehr persönlichen Gestaltung der Oberfläche wirft Fragen nach den Schicksalen und Persönlichkeiten der Flüchtlinge auf. Die entstandenen Arbeiten wurden von der Künstlerin fotografiert und die Abzüge für ihre Werkreihe überstickt.

Melilla tiene una Valla (Melilla hat einen Zaun)

Der Zaun, der das spanische Melilla vom marokkanischen Umland trennt, ist insgesamt elf Kilometer lang und sechs Meter hoch. Er bildet nicht nur eine Trennlinie zwischen Europa und Afrika, sondern auch zwischen Paradies und Barbarei, Leben und gehetztem Vegetieren. In der Stadt ist der Zaun allgegenwärtig, während er vom Rest Europas ignoriert wird, obwohl sich dort täglich Flüchtlingstragödien abspielen.

Tanja Boukal ging den Zaun in seiner gesamten Länge ab und fotografierte ihn und das Leben rundum. Diese Fotos hat sie zu selbstgestickten Gobelinbildern verarbeitet. Auf den ersten Blick gleichen sie Kreuzstichidyllen, wie sie üblicherweise als Sticksets zu kaufen sind.

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